Dieser ging gerechtfertigt nach Hause
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22.07.1951
Geliebte im Herrn!
„O Gott, ich danke Dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen, wie Räuber, Betrüger, Ehebrecher und Zöllner.“ Wir wissen, wer so gebetet hat. Zweifelsohne ein korrekter, pflichterfüllender, religiös eingestellter Mensch. – Und doch - welche Antwort Jesu: „Er ging nicht gerechtfertigt nach Hause.“ Wir sind betroffen von diesem Urteil. Ist es denn nicht etwas Schönes, wenn der Mensch seinem Herrn und Gott für alle Gaben und Gnaden, Seine Führung und Seinen Schutz dankt? Hier vernehmen wir ein anderes Urteil. Gott danken, dass wir besser sind als andere Menschen, soll nicht erlaubt sein. Wer von uns hat das nicht schon im Guten und Treuen getan? Haben wir uns da auf gleicher Stufe mit dem verurteilten Pharisäer gestellt. Vielleicht, vielleicht auch nicht? Wir wollen sehen!
Meine lieben Christen! „O Gott, ich danke Dir.“ So begann der Pharisäer im Tempel. Dank ist die Äusserung der Verbindlichkeit für erwiesene Wohltaten mit dem Willen dieselben nach Möglichkeit zu erwidern. Dank ist also demütige Anerkennung, dass der andere es gut gemeint hat. Das geht nicht immer so leicht. Die Tugend der Dankbarkeit wird uns nicht in den Schoss gelegt, sondern wir müssen von jung auf dazu erzogen werden. Das zeigt folgendes Beispiel. Der kleine Markus hört, wie der Vater der Mutter die einzelnen Posten der Kundenrechnung vorliest. Da denkt er sich: du hast eigentlich auch schon etwas gearbeitet, darum könntest du der Mutter auch einmal eine Rechnung machen. Er setzt sich hin und schreibt: für Brot holen 5 Rp., für Abwaschen 5 Rp., für Jäten 10 Rp., für Schuhe putzen 10 Rp. usw. zusammen 50 Rp. Die Mutter sieht die Rechnung auf dem Tisch und schweigt. Tags drauf findet der Markus 50 Rp. auf dem Tisch und steckt sie voll Freude ein. Da bemerkt er am gleichen Ort ein Blatt Papier und sieht er näher an. Rechnung der Mutter an Markus: 10 Jahre Wohnung 0 Rp., 10 Jahre essen 0 Rp., Krankenpflege und Nachtwachen 0 Rp., Kleidung und Wäsche 0 Rp., usw. zusammen 0 Rp. Da wird der Kleine unruhig schleicht zur Mutter in die Küche, verbirgt sein Gesicht in ihren Schoss und steckt die 50 Rp. in ihre Schürzentasche. (Koch 123,8,2.)
Heute begegnen wir dem Pharisäer. Er dankt Gott, gewiss. Macht er es besser als dieses Kind? Stellt nicht auch er Gott gegenüber seine Rechnung: Kein Räuber, kein Betrüger, kein Ehebrecher, kein Zöllner, pro Woche zweimal Fasten, Abgabe von 10% des Vermögens für den Tempel. Herrliche Aktivposten. Gott wird ja gerade zum Schuldner. Er steht Gott gegenüber schlimmer da, als das Kind vor seiner Mutter. Denn, „was hast du, das du nicht empfangen hast,“ schreibt Paulus im 1. Korintherbrief, „Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“ (Kor. 1. 4,7). Ein Dankender nennt seine Erkenntlichkeit: Schuldige Pflichterfüllung. Wem verdankt der Pharisäer, dass er nicht der Sohn eines Räubers, Ehebrechers, Zöllners ist. Wem verdankt er, dass er vor so vielen Gefahren und Gelegenheiten zur Sünde verschont blieb? Und sündenfrei ist er auch nicht geblieben. Eingedenk des Schriftwortes: „Selbst der Gerechte fällt sieben Mal des Tages.“ (Spr. 24,16). Trotz dieser Wahrheit, stellt er sich im Tempel hin um zu prahlen. Seine Worte sind zwar in ein Dankgebet gekleidet, endigen aber in einer Selbstanbetung. Mit den Lippen lobt er Gott, mit dem Herzen aber nimmt er ihm die Ehre. – Diese Gesinnung selbstgefälliger Überheblichkeit ist dem Herrn ein Greuel.
Geliebte im Herrn. Ist diese Gesinnung auch unter Christen möglich? Diese Frage stellen heisst, vor ihren grossen Gefahren warnen. Dem waschechten Pharisäismus ist das Rezept sehr leicht gemacht, auch heute. Kein Beruf, kein Stand, ist dagegen gefeit. Stell dir einen Hintergrund von allerhand üblen Menschen vor. Du wirst immer solche finden, die schlechter sind als du – wie der Kranke, der immer solche findet, die kranker sind als er, was aber einen billigen Trost bedeutet. Der gemachte Hintergrund für dich kann schon dein Nachbar sein, dein Mitbruder, deine Mitschwester, in denen du Fehler siehst, die du nicht hast, oder die grösser sind als deine. Das ist doch so wunderbar erhebend, macht so versöhnend gegenüber eigenen Fehlern, wirkt direkt ermunternd und beruhigend auf unser Gewissen. Man muss nicht neben Sträflingen stehen, die zu 15 und mehr Jahren Zuchthaus verurteilt sind, um vor Gott, den Menschen und sogar vor dem eigenen Gewissen als gut dazustehen. „Gott könnte sich trösten, wären alle wie ich. Der Pfarrer sucht seinesgleichen wie ich. Ich bin nicht wie diese und diese, vor allem nicht wie Zöllner. Mein Gewissen ist beruhigt, trotzt einiger Fehler, die mir unterlaufen, denn ich faste ja viel mehr als vorgeschrieben, gebe Almosen mehr als andere, bete länger und lauter.“ - Bei solchen (selbstgefälligen) Gedanken ist es dann nicht mehr ein grosser Schritt zum heutigen Pharisäer. Dieses selbstgerechte sich hinstellen vor andern in Gedanken, Worten und Werken, dieses ungeniessbare Gemisch von Frömmigkeit und Hochmut ist unverdaulich für das Reich Gottes.
Meine lieben Christen! Wie bewahren wir uns vor solcher Undankbarkeit Gott gegenüber? Das ist sehr einfach gesagt. Messen wir unser Leben und Handeln nicht an einer Schar moralisch unglücklicher Menschen, sondern am Leben Christi. Neben diesem durchdringenden Licht stell dich auf, und du wirst klein-klein-klein; kleiner als der Bub Markus vor seiner Mutter. So klein, dass kein Platz für Hochmut und Selbstgefälligkeit da ist, so klein, dass du weder Zeit noch Lust hast dich mit andern zu messen. Erst dann gehst du vor Gott gerechtfertigt nach Hause.
Amen.