Die Nächstenliebe
« zurück zur Übersicht
19.11.1950
Geliebte im Herrn!
Ein neues Gebot gebe ich euch: „Liebet einander, wie ich euch geliebt habe“ (Joh. 13,34), so spricht der Herr. „Wenn ihr nur jene liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr davon? Tun dies nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr bloss eure Freunde grüsst, tun dies nicht auch die Heiden? Seit also vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ (Mt. 5.46). Gott ist es, den wir im Nächsten lieben, sagt der heilige Thomas. Es ist also nach der Lehre Christi jeder Nächste unserer Liebe würdig, mag er uns persönlich nahe oder ferne stehen, mag er unser Mitbürger sein oder nicht, mag er uns sympathisch oder apathisch erscheinen, freundlich oder feindlich begegnen, mag es uns leicht oder schwer fallen, dies alles darf für einen Christen keine Rolle spielen, denn weder Wetter noch Launen entschuldigen die Verletzung der Nächstenliebe. Woran sollte man uns noch von andern, von Heiden unterscheiden wollen, wenn wir nicht die Worte Christi ernst nehmen? Die heidnische Gesinnung, deren wir überall in der Welt begegnen, woher kommt sie?
Papst Benedikt XV. beklagte sich bitter in seiner Enzyklika „Ad beatissimi“: „Es hat wohl keine Zeit gegeben, in welcher man das Wort Bruderliebe so oft im Munde führte wie heute. Aber es gab auch keine Zeit, an welcher man die Bruderliebe so wenig betätigte, wie gerade heute.“ Die feindliche Haltung des Volkes ist noch nicht das Schlimmste. Viel schlimmer ist die persönliche Selbstsucht, die sich noch mit dem Kleid des Rechts umgibt und dabei die Liebe grob verletzt. – Indem ich dies sage am zweitletzten Sonntag des Kirchenjahres, denkt wohl ein jeder an irgendeinen Vorfall im eigenen Leben. Aber schuld war immer der andere, nachgeben soll der andere. Und was für Redensarten haben oft wir Menschen bereit: Wenn dir das passiert wäre? Verzeihen werde ich, aber vergessen? Nein! Wenn du einen solchen Nachbar hättest? usw. – Hat Christus in seiner Liebe Ausnahmen gestattet? Im Gegenteil. „Tut Gutes denen, die euch hassen!“ Sein Beispiel lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig: Die Karwoche war der schwärzeste Undank gegen Christus. Der Verräterkuss, die Ohrfeige, die Entblössung und Nagelung. Wer hätte da noch eine Entschuldigung für die Verbrecher gefunden? Und Christus: „Herr verzeihe ihnen!“ Seither gibt es für einen Christen keine unverzeihliche Beleidigung mehr, die vor Gott bestehen könnte. Die Liebe hört nie auf.
Geliebte im Herrn! Hat Christus in seinen Forderungen auch Gehorsam gefunden, hat der göttliche Heiland in seinem Beispiel auch Nachahmer gehabt? Zu allen Zeiten finden wir sie. Die Apostel, die Jünger, die Kirchenväter, die Ordensgründer und Gründerinnen. Kurz gesagt alle Heiligen sind Maria-Seelen, welche Christus im Nächsten sehen und darnach handeln. Ein Beispiel möge uns dazu dienlich sein. Wir feiern ja heute das Fest der heiligen Elisabeth von Thüringen, das Vorbild jeglicher Nächstenliebe. Ihr Weg war nicht leicht, aber „denen, die Gott lieben gereicht alles zum Besten.“
Elisabeth wurde im Jahre 1207 geboren und war die Tochter des Königs von Ungarn. Früh zeichnete sie sich schon durch Frömmigkeit und Nächstenliebe aus und diente trotz ihres hohen Adels wo sie konnte Witwen, Weisen, Kranken und Bedürftigen. Im Jahre 1221 wurde sie dem Landgrafen von Thüringen vermählt, in dessen Schloss sie aufgewachsen war. Die Almosen flossen jetzt noch reicher durch ihre Hand und in ihrer Nächstenliebe küsste sie oft die faulenden Wunden der Aussätzigen und verband sie. Wie sie einmal für einen solchen Kranken keine Unterkunft fand, legte sie ihn gegen den grossen Wiederstand der Schwiegermutter in ihr eigenes Bett. Da kam gerade der Landgraf von einer Reise heim und sogleich führte ihn die Mutter ins Schlafgemacht mit den Worten: „Siehe, deine Frau legt Aussätzige in dein Bett. Sie will dich selbst aussätzig machen.“ In augenblicklichen Unwillen riss der Landgraf die Decke vom Bett. Da bewirkte Gott, dass sein Auge statt des Aussätzigen den Gekreuzigten im Bette liegen sah. Da sagte er zu seiner Frau: „Solche Gäste kannst du mir recht viele ins Bett legen. Das ist mir recht.“ - Meine Lieben! Ist das nicht ein schöner Gedanke: Dienst am Kranken ist Dienst am leidenden Heiland. „Was ihr dem geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan.“
Eine schwere Prüfung traf Elisabeth, als ihr Gatte auf dem Kreuzzug starb. Sie wurde vom ländergierigen Schwager aus der Wartburg gejagt. Mitten im kalten Winter war sie mit ihren Kindern auf die Landstrasse gestellt. Herberge suchend wurde sie überall hart abgewiesen, wie das heilige Paar von Bethlehem, bis ihr schliesslich ein Wirt eine zerfallene Scheune anwies, wo sie ihre Kinder vor dem Erfrieren schützen konnte. Wie sie in der früh läuten hörte, ging sie ins nahe Kloster und bat die Mönche nach dem Gottesdienst das Te Deum, Grosser Gott wir loben dich anzustimmen, für die Trübsal, womit sie Gott begnadigte. Not zeigt die innere Grösse eines Menschen. Sie verzweifelte auch nicht als ihr die Kinder weggenommen wurde und sie selbst den Lebensunterhalt als Magd verdienen musste, sondern gab von ihrem Erwerb noch den Armen. – Als sie ohne ihr Zutun durch einen verwandten Bischof wieder in ihre Rechte eingesetzt wurde, verzieh sie in ergreifender Weise ihren Feinden. Um sich aber ganz Gott und dem Nächsten zu widmen, nahm sie den Schleier der heiligen Klara und verbrachte als Franziskanerin freiwillig ein Leben grösster Erniedrigung und Entsagung, weshalb sie mit 24 Jahren schon die grösste Heiligkeit erreicht hatte.
Geliebte im Herrn! „Seit vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Ich weiss, dass wir alle dieser Vollkommenheit allzu ferne stehen. Aber das eine ist gewiss: Es gibt keinen sicheren Aufstieg zur Gottesliebe und Gottesnähe, ausser durch demütige, barmherzige und verzeihende Liebe des Menschen zum Mitmenschen. Das ganze Leben besteht aus lauter Gelegenheiten dazu. Die heilige Elisabeth weist uns den Weg. Darum bitten wir sie, uns immer wieder zu ermahnen und zu helfen durch ihre Fürsprache bei Gott in dieser Liebe vorwärts zu schreiten.
Amen.